TAZ
"Der Mann mit dem Knall"
Für jedes Gedicht gibt es ein Literaturarchiv. Doch wer kümmert sich um die Randphänomene des Pop? Jahrelang sammelte Frank Maier Industrial- und Geräuschmusikplatten. Dann gründete er das Wiederveröffentlichungslabel Vinyl On Demand VON ANDREAS HARTMANN
Oberhalb des Industriegebiets in Friedrichshafen am Bodensee
in einem Bestattungsinstitut und direkt neben dem Friedhof befindet
sich das Office von Vinyl On Demand, das gleichzeitig auch einfach nur
die Wohnung von Frank Maier ist. Erwartungsgemäß dreht sich hier alles
um Platten, im Hausflur stapeln sich bereits die neuesten Pressungen
des Labels und in der Wohnung strecken sich die vollgestellten Regale
bis an die Decke. Wenn Frank Maier sagt, er habe Angst, dass das Haus
irgendwann dem hier verteilten Gewicht nicht mehr standhalten könnte,
dann meint er das nicht nur spaßig. Wir befinden uns hier nicht nur in
einer Art Wohnbüro, sondern auch in einem Archiv, bestimmt einem der
vollständigsten überhaupt für obskure Musik aus den Siebzigern und
Achtzigern, speziell aus Deutschland.
Früher waren all
diese Platten und Kassetten lediglich Teil einer fanatisch
zusammengeklaubten, über 20 Jahre hinweg entstandenen Sam mlung. Die
Bestimmung von gesammelten Gegenständen ist es normalerweise, ihren
Besitzer mit Stolz zu erfüllen und von ihm regelmäßig abgestaubt zu
werden. Bei Frank Maier war das Jahre lang nicht anders. Sein Antrieb
war es, irgendwann die perfekteste Sam mlung der Welt für Industrial,
obskure Geräuschmusik und Avantgarde zu besitzen. Vielleicht hat er das
sogar geschafft. Doch irgendwann, nahezu im Stadium der Perfektion
angekommen, nagte die Frage an ihm: Und jetzt? Den ganzen Krempel
einmotten für die Enkel, in einen Banktresor damit? Frank Maier kam
eine andere Idee: Seit ein paar Jahren benutzt er seine Sam mlung als
Archiv, virtuelles Museum und Forschungslabor, er selber betrachtet
sich als eine Art Restaurator von beinahe verschollenem Tongut.
Es
gibt Filmarchive und Literaturinstitute, die sich um jedes auf einen
Bierdeckel gekritzelte Gedicht eines halbwegs bekannten Autor s k
ümmern. Doch wer sorgt sich um den vollständigen Erhalt popkultureller
Randerscheinungen, die keine Plattenfirma des Geldes wegen liebevoll
betreut, für die sich aber auch keine staatliche Institution zuständig
fühlt? Viele dieser Randerscheinungen sind Ende der Siebziger, Anfang
der Achtziger als Teil einer damals florierenden Tapeszene lediglich
auf Kassetten oder auf selbst gepressten Singles in lächerlich
niedrigen Auflagen erschienen. Die Industrial- und Avantgardeszene
dieser Zeit legte großen Wert darauf, alles in den eigenen Händen zu
behalten, und man verkaufte lieber billig produzierte Kassetten mit
handgemachten Covern auf Konzerten, bevor man seinen Namen unter einen
Vertrag irgendeiner Plattenfirma setzte. Zudem haben selbst Stars der
Szene wie Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten oder Gabi
Delgado von DAF meist schon Musik vor ihren ersten
Plattenveröffentlichungen aufgenommen. Komisches, aber vielleicht
interessantes Zeugs, roh und ungeschliffen, unkommerziell und
aufregend, manchmal beknackt und genial gleichzeitig. Genau an dieser
Musik ist Frank Maier interessiert. Für ihn ist das der Stoff, dessen
Einfluss auf die experimentelle Musik von heute kaum zu überschätzen
sei. Hier komme alles her, sagt er, auch Techno, das sei der wahre
Ursprung aktueller elektronischer Musik.
Frank Maier
erforscht Popkultur, die so noch nirgendwo historisiert wurde. Im
Grunde kümmert er sich um eine Terra incognita, um Vergessenes oder
Verdrängtes, sozusagen um die Geschichte vor ihrer eigentlichen
Geschichte. "In einer Zeit, in der sich Popmusik hauptsächlich selbst
zitiert", sagt er, "liegt das Neue im Entdecken des Alten." Deswegen
archiviert und digitalisiert er seit ein paar Jahren seine Tonträger
und Dokumente. 100.000 Tonträger hat er allein auf seiner Website www.record-price-guide.org
archiviert, auf der man auf Maiers eigene Erfahrungen als Extremsammler
zurückgreifen und wo man sich über den Wert rarer Tonträger informieren
kann. Sein enzyklopädisches Wissen wollte er auch bereits dem Deutschen
Musikarchiv zugute kommen lassen. "Doch die haben abgewunken, weil sie
nur archivieren, was sich auch in ihrem Bestand befindet." Und an all
die Tonträger, von denen Frank Maier weiß, wären sie niemals
rangekommen. Seit gut zwei Jahren betreibt er nun auch noch sein
eigentlich wahnwitziges Label Vinyl On Demand.
In einer
wahren Veröffentlichungswut hat er hier in kürzester Zeit sackweise
verloren geglaubte Perlen vor allem der deutschen New Wave
veröffentlicht, aber auch einschlägige Platten des Industrial, etwa von
Acts wie The New Blockaders, deren Originale hunderte von Dollars auf
Börsen bringen und die nicht nur von Sonic Youth' Thurston Moore
kultisch verehrt werden. Der Witz dabei ist, dass Maier das
hoffnungslos veraltete Medium Kassette auf das vermeintlich genauso
hoffnungslos veraltete Medium der Vinyl-Platte überträgt, auf die CD
verzichtet er bislang vollständig. Vinyl, so behauptet er, wird es
immer geben, die Haptik und das erhebende Gefühl, wenn die Plattennadel
sich auf das Vinyl senkt, werde noch Bestand haben, wenn der iPod den
CD-Player so vollständig verdrängt hat wie der DVD- Player demnächst
den Videorecorder. Das wirklich Lustige ist jedoch: Frank Maier ist von
Anfang an mit seiner Idee auf offene Ohren gestoßen.
Er hat einen Markt geschaffen, den es vorher gar nicht gab, einen Markt für alte Musik, die es vorher mehr oder weniger auch nicht gab. Vor allem Wolfgang Müller von der Berliner Obskurband Die Tödliche Doris war Geburtshelfer für Maiers Spinneridee. Er hat die Rechte an gleich mehreren Tapes und vorher nie veröffentlichten Aufnahmen freigegeben, die in 500er-Auflagen erschienenen Platten auf Vinyl On Demand waren sofort ausverkauft, darunter sogar eine 6-LP-Box. Müller empfahl Maier weiter und so wurde das Konzept zum Selbstläufer: Bizarre Musik trifft auf eine bizarre Labelphilosophie, bei Vinyl On Demand stimmen Form und Inhalt immerhin hundertprozentig überein, und das hat viele überzeugt. Dass Frank Maier ein echter Maniac ist, fanatisch und besessen, hat ihm dabei nur geholfen. "Auf solche obsessiven Leute habe ich immer gewartet", sagt Wolfgang Müller . "Frank Maier hatte irgendwann bei mir angerufen und mir mit seinem schwäbischen Akzent erklärt, dass er ein Label machen und Tapes der Tödlichen Doris herausbringen wolle. Ich fand sein Labelkonzept gleich lustig. Er kam dann mit mehr Tapes meiner damaligen Band vorbei, als ich selbst besitze und von deren Existenz ich nicht mal wusste."
Bislang funktioniert das Label
als Fanprojekt, ohne Gewinn abzuwerfen, das auf einen
Community-Gedanken aufbaut: Künstler, Labelbetreiber und Kunden
arbeiten miteinander, ziehen an einem Strang, helfen sich gegenseitig
und tauschen sich untereinander aus; die Plattenindustrie dürfte sich
angesichts dieses funktionierenden Konzepts verwundert die Augen
reiben. Viele der von Maier nach den Rechten für Veröffentlichungen
angefragten Künstler sind verwundert, dass sich überhaupt noch jemand
an sie erinnert, sind dann aber umso begeisterter mit dabei und machen
selber Vorschläge für weitere Veröffentlichungen oder schicken gleich
bereits fertige Bänder. Vinyl On Demand bietet inzwischen auch einen
Club an, deren Mitglieder Maiers Trüffelschwein-Instinkt so sehr
vertauen, dass sie ihm jede Platte blind abnehmen, und auf Wunsch lässt
Maier nach dem Book-On-Demand-Prinzip auch bestimmte Tapes auf Vinyl
pressen, falls er die Rechtefragen geregelt bekommt. Der Archivierungs-
und Entdeckungswahn von Frank Maier scheint unermesslich. Er träumt
inzwischen von "Maiers Almanach", einer ultimativen
Geräuschmusik-Enzyklopädie, Nachdrucken längst vergessener
Industrial-Fanzines und DVD-Kollektionen. Demnächst wird er eine LP-Box
samt DVD und einem Buch von Wolfgang Müller anlässlich des 25-jährigen
Jubiläums des Festivals der Genialen Dilletanten in Berlin
herausbringen. Für ihn ist dieses historische Konzert, das als "Die
Große Untergangsshow" bekannt wurde, ein prägendes Ereignis für das,
was später von New Wave bis Techno in Deutschland passierte. Große
Teile der aktuellen Berliner Szene haben hier ihren Ursprung, meint er.
Und wahrscheinlich hat er Recht. Begeistert sichtet er
nochmals das Filmmaterial für die DVD, stoppt an einer Stelle, zeigt
auf einen jungen, schlanken Typen am Bass und fragt, ob man wisse, wer
das sei. Natürlich nicht. "Das ist Westbam mit seiner damaligen Band
Kriegsschauplatz Tempodrom. Dauernd verpasst er den Einsatz." Egal, ob
er damals den Einsatz verpasste, heute ist Westbam deutscher
Techno-Mogul. Auch sein Kollege Dr. Motte war übrigens damals schon
aktiv. Maier besitzt seine Tapes, die er als DPA, Deutsch Polnische
Aggression, veröffentlicht hatte. Krude, aber zeithistorisch
interessante Aufnahmen. Maier hat Motte bereits angeschrieben, dass er
sie gerne veröffentlichen würde. Eine Antwort hat er bislang noch nicht
bekommen.
Ein Link auf diese Artikel befand sich auch auf www.Spiegel.de, www.Perlentaucher.de und www.Netzzeitung.de